Zugegebenermaßen hatte sich der Wunsch nach mehr Unabhängigkeit bei mir erst ziemlich spät richtig gefestigt – meiner Meinung nach.
Meinen ersten Blindenstock bekam ich kurz vor meiner Einschulung, aber ich würde sagen das zwischen Stock und mir war in den ersten vier Jahren eher eine Hassliebe.
Sicher, manchmal war er ganz praktisch, um sich an bestimmten, hindernis- und treppenreichen orten sicher zu bewegen, aber ich war einfach zu sehr daran gewöhnt, dass ich immer von Anderen mitgenommen- und darauf geachtet wurde, dass ich von A nach B komme.
Glücklicherweise änderte sich meine Sichtweise, als ich nach Marburg kam. Hatte ich es zu Grundschulzeiten noch als Selbstverständlichkeit empfunden, von meinen sehenden Mitschülern von A nach B mitgenommen zu werden, wurde in Marburg von mir erwartet, dass ich meine Wege eines Tages selber bestreiten kann. Außerdem wollte ich mir vor „Meinesgleichen“ auf die Dauer nicht die Blöße geben und von Anderen abhängig sein, während meine blinden Mitschüler schon ein ganzes Stück weiter waren als ich.
So konnte ich mich nach ein paar Monaten bereits auf dem gesamten Schulgelände zurechtfinden; allerdings konnte ich meine Faulheit nicht komplett überwinden in Bezug auf den Schulweg. Als meine Mobilitätslehrerin mir anbot, den Weg von meiner WG zum Campus selbst zu gehen, lehnte ich ab und nahm
Stattdessen ihr Angebot an, zusammen zu laufen, einfach weil es schneller ging und ich mit Begleitung die für Schüler „nicht sichere“ Abkürzung nehmen zu dürfen.
Am Ende der 5. Klasse waren meine O&M-Stunden (Orientierung und Mobilität) aufgebraucht. Nun kannte ich mich zwar auf dem gesamten BLISTA-Campus aus, wobei ich mir – wie oben angemerkt – die Chance, den Schulweg zu trainieren und selbst zu bestreiten, damit erstmal vertan hatte.
Im Laufe des 2. Jahres bekam ich dann doch noch O&M-Stunden etwa viermal im Abstand von zwei Wochen, aber das reichte (soweit ich mich zurückerinnern kann) nicht aus, um den „Ausgang“ zu bekommen. Mit anderen Worten, ich saß ein weiteres Jahr lang in
meiner WG oder auf dem Campus quasi fest, es sei denn, einer der Betreuer oder Zivis hatte Zeit für einen Ausflug in die Stadt. Ansonsten wurde ich weiterhin morgens zur Schule begleitet und nach Schulschluss wieder abgeholt.
Schließlich bekam ich 2009 langfristig einen neuen O&M-Lehrer, sowie eine neue Gelegenheit, meinen Schulweg zu üben und bekam endlich den lang ersehnten Ausgang! Ein paar Wochen später konnte ich bereits zum nahegelegenen Supermarkt gehen und später hatten sowohl O&M-Lehrer als auch ich keine Einwände mehr, tiefer in die Innenstadt vorzudringen.
Was die oben angesprochenen „Ausgänge“ betrifft: Schüler mit Sehbehinderung unter 18 Jahren müssen – nach meinem Kenntnisstand – einen Termin mit einem der WG-Betreuer vereinbaren, der sie auf
einer bestimmten Strecke begleitet. Wenn die begleitenden Betreuer kein Problem sehen, wird der Ausgang für diese bestimmte Strecke erteilt.
Bei uns Blinden ist das etwas komplizierter, da man im Zweifel erstmal auf eine Warteliste gesetzt wird und auf den nächsten verfügbaren O&M-lehrer warten muss, der
zusätzlich überprüft, ob man den Blindenstock richtig benutzt, auf gewisse Eigenheiten des Weges hinweist und auf mögliche Fehler achtet und diese korrigiert. Werden alle etwaigen Hürden gemeistert, wird schließlich die Erlaubnis für den Ausgang
erteilt und Betreuer und Schüler entsprechend informiert.
Sollte man dennoch Strecken ohne sehende und erwachsene Begleitung laufen, für die kein Ausgang erteilt wurde, ist man im Falle eines Unfalls nicht versichert.
In bestimmten Fällen hat mich das aber nicht davon abgehalten, interessehalber mal ein Stückchen weiter zu laufen als erlaubt, wobei ich trotzdem auf demselben Bürgersteig geblieben bin. Bei etwaigen Überquerungen auf die andere Straßenseite habe ich mir von Passanten helfen lassen. Dazu sollte ich sagen, dass ich größtenteils für beide dieser Bürgersteige den Ausgang hatte, aber eine der möglichen Überquerungsstellen für mich noch unerprobtes Territorium waren und ich somit erstmal ein ganzes Stück zurücklaufen hätte müssen, um die Straßenseite kurz vor der BLISTA zu wechseln.
Dennoch rate ich unerfahrenen Stocknutzern und Neuzugängen an der BLISTA zur Vorsicht und zum nicht nachmachen; oder um auf mein o.g. Beispiel zurück zu kommen: Macht alles Wichtige möglichst in einem Aufwasch und dann sollte das sowieso kein Thema mehr sein.
Mit der stetig dazu erlangten Unabhängigkeit in Marburg wuchs auch meine Selbstsicherheit, sowie das Vertrauen gegenüber hilfsbereiten Passanten, die mich das Eine oder andere Mal wieder auf den richtigen Weg gebracht haben, sollte ich mich wirklich mal irgendwo verlaufen haben.
Hatte ich mich früher mal verlaufen, wurde von fremden Leuten angesprochen oder wurde ich nicht zur richtigen Zeit am richtigen Ort abgeholt, bekam ich es früher immer mit der Angst zu tun. Dieses Gefühl verflog aber mit der Zeit je mehr ich mich in Marburg auskannte.
Grundsätzlich muss man sich gerade am Anfang folgendes immer wieder vorbeten: Nur weil man mal nicht mehr weiter weiß und der Weg nicht so läuft wie ursprünglich geplant, heißt das noch lange nicht „Game Over“.
Eine Reorientierung, ein Mund zum fragen oder ein Handy können hier schon Abhilfe schaffen um schlussendlich doch noch den Weg dorthin zu finden, wo man eigentlich hin wollte.